Joseph Wresinski, Wortführer der Ärmsten


Joseph Wresinski kam am 12. Februar 1917 in Angers (Frankreich) zur Welt und wuchs dort in bitterer Armut auf. Er wurde katholischer Priester (daher die Anrede “Père Joseph”) und war der Bewegung der Arbeiterpriester verbunden. 1956 schlug sein Bischof ihm vor, die Arbeit in einem Obdachlosenlager in Noisy-le-Grand (östlich von Paris) aufzunehmen. 252 grösstenteils einheimische Familien lebten dort in einem Dauerprovisorium abseits der modernen Gesellschaft. Sie waren dem gleichen Elend ausgesetzt, das Wresinski aus seiner Kindheit kannte. Er zog in eine Baracke ein, um mit ihnen zu leben. “An diesem Tag bin ich ins Unglück zurückgekehrt” sagte er später.

Er setzte seine ganze Energie ein, damit die Familien, die das Elend zusammenführt, in ihrer Würde anerkannt werden und ihre Erfahrung im Umgang mit Not und Ausgrenzung in die Gesellschaft einbringen können. “Ich war besessen von der Idee, dass dieses Volk niemals aus seinem Elend herauskommen würde, solange es nicht in seiner Gesamtheit, als Volk, empfangen würde, wo die andern Menschen diskutieren und sich mühen. Ich habe mir fest vorgenommen, dass ich, wenn ich hier bliebe, dafür sorgen würde, dass diese Familien die Stufen des Vatikans, des Elysées, der UNO emporsteigen können.

Den Familien in Noisy-le-Grand schlug er vor, einen Kindergarten und eine Bibliothek zu gründen. “Diese Menschen brauchten nicht so sehr Nahrung und Kleider, sondern Würde. Sie wollten nicht länger von der Willkür anderer Leute abhängig sein.” Eine Kapelle, ein Kulturzentrum, eine Wäscherei und ein Schönheitssalon wurden nach und nach eingerichtet.

Zusammen mit den Vätern und Müttern im Lager gründete Père Joseph einen Verein, aus dem später die Bewegung ATD Vierte Welt entstand. Ihn trieb eine Gewissheit an: “Elend ist nicht unabänderlich, es ist von Menschen geschaffen worden.” Mit der Zeit engagierten sich Frauen und Männer unterschiedlichster Herkunft mit ihm. Einige entschlossen sich,  ihr Leben mit den Ärmsten zu teilen. So entstand das hauptamtliche Volontariat von ATD Vierte Welt.

1979 wurde Wresinski Mitglied des französischen Wirtschafts- und Sozialrats, der ihn sechs Jahre später mit der Abfassung eines Armutsberichts betraute. Am 12. Februar 1987 stellte sich der Rat ohne Gegenstimme hinter die von Père Joseph vorgeschlagene Strategie für einen umfassenden Kampf gegen die Armut. Er anerkannte damit offiziell, dass Elend eine Verletzung der Menschenrechte darstellt und dass Armut nur in Partnerschaft mit den Ärmsten überwunden werden kann.

Am 17. Oktober 1987 versammelten sich 100’000 Menschen aus aller Welt und aus allen sozialen Schichten am Trocadero in Paris, um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Das war die Geburtsstunde des Welttags zur Überwindung der Armut. Da, wo 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet wurde, ist bis heute, in eine Steinplatte eingemeisselt, der Appell von Joseph Wresinski zu lesen: “Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen, ist heilige Pflicht.”

Am 14. Februar 1988 starb Joseph Wresinski. Er wurde in Méry-sur-Oise (Frankreich) im Zentrum der Bewegung ATD Vierte Welt beigesetzt. Sein Nachlass wird im Internationale Zentrum Joseph Wresinski in Baillet-en-France (Frankreich) aufbewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sein Name bleibt mit der Befreiung der Armen verbunden, die ihn als einen der ihren, als Zeugen und Anwalt der Ärmsten, anerkennen.