Armut – mehr als kein Geld im Sack

Die Armut verbraucht meine Kraft
“Wir haben schon immer aufs Geld achten müssen. Ich habe dann Arbeit angenommen, in der Fabrik, neben den Kindern, bis ich zusammenbrach. Dann kam noch ein weiterer Schicksalsschlag dazu. Ich kann die Armut und meine Lebensgeschichte gar nicht auseinanderhalten, es hängt alles zusammen. Jetzt bin ich arbeitslos und bald 50. Was ist eigentlich mit mir los? Die Armut verbraucht meine Kraft.”

Hoffen auf Freundschaft
Seit zehn Jahren ist sie allein. Sie ist ausgebrannt. Jetzt sucht das Sozialamt eine Pflegefamilie für ihre drei Kinder, damit sie die längst fällige Operation machen lassen kann. Sie wäre glücklich, wenn daraus langfristig eine Freundschaft entstehen könnte: “Ich wünsche mir so sehr, dass Menschen tragbare Beziehungen mit uns aufbauen.”

Fassade
“Man muss gut informiert sein, um in der Gesellschaft klarzukommen. Man muss die Behörden verstehen und die Briefe, das ist alles nicht so leicht. Ich habe einen Kollegen, einen Schweizer, der nicht lesen und schreiben kann. Ich hab’s aber erst spät gemerkt. Er  hat immer den Mund gross offen, um das zu verstecken. Es ist wie eine Fassade. Aber die Kollegen nehmen ihn nicht ernst.”

Angst
“Wenn wir nicht zum Elterngespräch kommen, denken die Lehrer, wir kümmern uns nicht um unsere Kinder. Dabei lieben wir sie und hoffen, dass sie in der Schule all das lernen können, was wir selber verpasst haben. Wir haben ständig Angst: ‘Sie werden mir die Kinder wegnehmen! Sie werden mich in die Psychiatrie bringen!'”

Gutes Gefühl
Frau Abt lädt mich zum Essen ein. “Wenn es nicht mehr reicht, um unser Brot zu teilen, ist es ganz schlimm. Hungern ist nicht angenehm, aber teilen, was man hat, ist notwendig für ein besseres Lebensgefühl.”

Scham
“Ich schäme mich meiner Armut nicht mehr. Aber sie bringt mich in Situationen, in denen ich mich schäme. Zum Beispiel, wenn ich ausrufe, weil ich nicht zu sagen wage: ‘Ich habe nicht verstanden.'”

Hilfe?
“Ich hatte 3600.- Franken pro Monat für mich und meine vier Kinder. Auf dem Sozialamt sagte man mir, dass sie mir nicht helfen können, weil ich 100.- über dem Ansatz liege. Mit der Sozialhilfe hätte ich jedes Jahr zusätzlich etwas für die Kleider der Kinder und andere Hilfe bekommen. Mit diesen Sozialhilfeansätzen muss man wirklich im totalen Elend sein, um Hilfe zu erhalten.”

Einsamkeit
“Du hast ja niemanden mehr, weil du überall nein sagen musst. Es gibt einen Verein, die gehen zum Zirkus oder auswärts essen. Das wäre schön. Aber ich sage nicht gerne, dass ich es mir nicht leisten kann. Sie würden mir sicher helfen, aber ich mag nicht fragen. Ich habe erlebt, wie meine Mutter fragen musste und wie erniedrigend das war. Man muss immer Notlügen suchen, dass man krank ist und so.”

Mut und Widerstand

Familie gründen 
“Ich hatte drei Kinder, die ersten zwei hat man mir weggenommen. Als mein drittes kam, wollte ich es unbedingt behalten. Der Arzt erkannte meinen Willen und rief den Vormund, die Sozialarbeiterin und mich zusammen. Ich spürte, dass mir Vertrauen geschenkt wurde. Die Sozialarbeiterin fand eine Notwohnung. Eine Säuglingsschwester kam drei Jahre lang wöchentlich vorbei. Ich fühlte mich unterstützt. Luca und ich besuchten jeden Donnerstag seine beiden Geschwister im Heim. Ich habe kämpfen müssen, um eine Familie zu gründen und ich bin stolz darauf.”

Lernen
“Als Erwachsene kam ich wegen der mangelnden Schulbildung nicht allein zurecht. Ich musste meine Töchter bitten, die Briefe zu schreiben. Ich wollte lernen, traute mich aber lange nicht: ‘Diese Kurse sind doch nur für Ausländer. Ich bin Schweizerin und kann nicht gut lesen und schreiben, was werden die wohl denken?’ Dann wagte ich es doch. Meine Töchter sagten: ‘Gut, dass du etwas aus deinem Leben machst!’ Seither nehme ich Kurse in Rechnen, Informatik, Französisch und Korrespondenz. Ich habe schon grosse Fortschritte gemacht.”

Das grösste Geschenk
“Wenn die Kinder zu mir kommen und sagen ‘Mama, ich liebe dich’, dann ist dies das grösste Geschenk, das niemand mit Geld bezahlen kann. Es ist schön und wirklich. Und es ist für mich wichtiger als die Armut. Es gibt mir Kraft zum Weitermachen. Menschliche Beziehungen sind wichtiger als Geld, das will ich meinen Kindern mitgeben.”

Geld vom Götti
“In der Strassenbibliothek von ATD Vierte Welt diskutieren die Kinder. Melanie hat von ihrem Götti etwas Geld erhalten und es für den Jahrmarkt auf die Seite gelegt. Gegen Monatsende ist in der Familie kein Geld mehr da, um Essen zu kaufen. ‘Jetzt habe ich das Geld halt Mami gegeben, damit wir einkaufen können’ sagt Melanie. Ein anderes Kind ruft: ‘Dann seid ihr aber wirklich arm!’ Melanie: ‘Ist doch normal, dass man einander hilft!'”

Vertrauen und Respekt
“Es ist schwierig, jemanden, der wirklich ganz unten ist, in unsere Mitte zu holen. Vielleicht, weil es uns stark an den eigenen Schmerz erinnert. Meine Nachbarin hat vier Kinder. Sie hat keinen guten Ruf und viele haben Angst vor ihr. Sogar Leute von uns, die wissen, was Armut ist, haben Mühe, sie zu akzeptieren. Meine Tochter hat nun ihr Kind dieser Frau zum Hüten anvertraut. Sie hat gezeigt, dass es möglich ist, diese Familie zu respektieren. Auch die andern sind jetzt weniger ablehnend.”

Lebensmittelpaket
“Zweimal habe ich bei ‘Cartons du coeur’ um Lebensmittel gebeten. Das tat mir weh. Als ich die Pakete erhielt, kamen mir die Tränen. Es braucht Mut, für so etwas zu bitten. Ich rief erst an, als es gar nicht mehr anders ging. Und dann sagten Töchter auch noch: ‘Wo bist du jammern gegangen, um das zu bekommen?'”

Flaschenpfand
“Als es für die PET-Flaschen noch ein Pfand gab, suchten wir diese mit den Kindern in den Abfallcontainern. Meiner ältesten Tochter gefiel das überhaupt nicht, aber ich konnte mit dem Geld das Abendessen kaufen. Manchmal kamen bis zu dreissig Franken zusammen.”

Not und Verantwortung
“Im Moment lebe ich auf der Strasse. Wir leben in grosser Not. Wir haben die Verantwortung, das Elend unserer Kindheit zu überwinden und unseren Kindern ähnliches Leid zu ersparen. Wir haben die Verantwortung, zu wachsen.”

Eine Frage der Menschenrechte

“Damit Personen und Famiien ihren beruflichen, familiären und sozialen Verpflichtungen nachkommen und ihre Grundrechte wahrnehmen können, brauchen sie bestimmte Sicherheiten. Wirtschaftliche und soziale Unsicherheit ist das Fehlen einer oder mehrerer dieser Sicherheiten, namentlich des Arbeitsplatzes. Diese Unsicherheit kann mehr oder weniger gross sein und mehr oder weniger schwere und endgültige Auswirkungen haben. Sie führt dann zu tiefer Armut, wenn sie mehrere Existenzbereiche berührt, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhält, wenn sie die Möglichkeiten beeinträchtigt, aus eigener Kraft in einer absehbaren Zeit seinen Pflichten wieder nachzukommen und seine Rechte zurück zu erwerben.”
Wresinski-Bericht des frz. Wirtschafts- und Sozialrates, Februar 1987

“9. Wir sind hier versammelt, … damit alle Männer und Frauen, insbesondere jene, die in Armut leben, Rechte wahrnehmen, Ressourcen nutzen und Verantwortung übernehmen können und so in die Lage versetzt werden, ein persönlich befriedigendes Leben zu führen und zum Wohl ihrer Familie, ihres Gemeinwesens und der gesamten Menschheit beizutragen.”
Aus der Resolution der Erklärung des Weltsozialgipfels von Kopenhagen 1995

“Erinnern wir daran, dass Armut eine Aberkennung der Menschenrechte ist. In diesem Zeitalter beispiellosen Reichtums und technischen Könnens, haben wir zum ersten Mal in der Geschichte die Macht, die Menschheit von dieser beschämenden Geissel zu befreien. Wir müssen nur den Willen dazu aufbringen.”
Kofi Annan, UNO-Generalsekretär, 17. Oktober 2002

“… und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen”
Aus der Präambel der Eidgenössischen Bundesverfassung

“Armut ist die grösste Menschenrechtsverletzung.”
Mary Robinson, ehemalige UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte