Treyvaux, 11. Mai 2019, 14 Uhr 30: Begegnungen in andern Ländern
Vorführung und Gespräch rund um die Kurzfilme, die in mehreren Ländern mit Mitgliedern der Bewegung ATD Vierte Welt von Simeon und Eugen Brand gedreht worden sind.
Obwohl diese Menschen in verschiedenen Welten leben, verbindet sie ihre Erfahrung generationenübergreifender Armut. Jugendliche, Frauen und Männer sprechen von dem, was diese Erfahrung sie gelehrt hat:
– Worauf kommt es an, dass man Mut und Vertrauen nicht verliert? Dass man das Schweigen rund um das Elend brechen und sich mit andern verbinden, gemein-sam handeln und gestalten kann?
Kurzfilme GEMEINSAM FÜR DIE WÜRDE ALLER
Engagierte Personen und innovative Projekte
Die folgenden 14 Kurzfilme in der jeweiligen Ortssprache sind deutsch und französisch untertitelt und dauern durchschnittlich 30 Minuten.Sie wurden aufgenommen in:
Zentralafrikanische Republik – Haïti – USA – Peru – Bolivien – Taipeh – X’ian – Libanon – Normandie – Cerisy (internationales Kolloquium) – Créteil – Freiburg (Schweiz)
Die Zuschauer haben das Wort
Jacques Berset, Journalist
Dieser Film stellt die Würde der Armutsbetroffenen wieder her. Er verbindet drei grundlegende Elemente: ihr Sprechen, menschliches Engagement und politischen Einsatz.
Elisabeth Gillard, Basismitglied ATD Vierte Welt
Dieser Film spricht zu allen, die aus irgendeinem Grund das Schweigen gekannt haben.
Jean-Bernard Chatton, Ausbilder
Der Film zeigt zwei vorrangige Aspekte: Zuerst eine Suche nach Anerkennung der Realität, wie sie von den Betroffenen erlebt und ausgedrückt wird. Die Notwendigkeit, die Betroffenen in einer Bewegung gegen die Ausgrenzung zu versammeln. Ein ausdrücklicher Wille zur Identität in der sozialpolitischen Ordnung der Gesellschaft. Eine zweite zutiefst menschliche Dimension zeigt:(… weiter lesen)
Jeder Mensch muss sich seiner Herkunft stellen und auch seinen Lebensbedingungen, so schrecklich und prekär sie auch sein mögen, ohne jene Seiten zu vergessen, die grosse menschliche Wärme zeigen. Ich mag den Ausdruck „wie kommst du da raus“ nicht so sehr, denn es kommt vor allem darauf an, wie man in seine Geschichte „hineinkommt“ und eine Sprache findet, um sie auszudrü-cken, ihr Sinn zu geben und sich trotz und mit seinen Lebensbedingungen zu entfalten. Dabei muss die vorrangige Bedeutung der Beziehungen unterstrichen werden; zwar gilt es, seinen Teil Einsamkeit anzunehmen, aber isoliert zu werden ist inakzeptabel.
François Jomini, ATD- Mitarbeiter
Es ist eine Meisterleistung fertigzubringen, dass man die Kamera vergisst und soviel Präsenz und Aufmerksamkeit für das erreicht, was gerade passiert. Und immer dieses irgendwie unwahrscheinliche „Hingehen“ zum Treffen mit der Geschichte des andern. Manchmal muss man weinen, manchmal lachen. Die Menschen zeigen sich gross im Film, in Naturgrösse. Es ist ein Frage-Film, der sich weigert zu beweisen, auseinanderzunehmen, zu erklären und Antworten zu verbreiten. Er lässt Platz für unsere wesentlichen Fragen und lässt uns fühlen, dass wir mit unserem Warum auch den Sinn eines möglichen Einsatzes finden. Der Film beschreibt die Bewegung ATD Vierte Welt nicht als ein kollektives Ideal, er lässt es uns vielmehr von innen heraus erleben, in einem schöpferischen Werk.
Luzius Mader, Bundesamt für Justiz
Dieser Film berichtet von einem unablässigen Einsatz. Es ist ein berührender und eindrücklicher Film. Er verdient unsere Achtung und Anerkennung.
Alessio Christen, Literaturwissenschaftler
Ohne je seinen Platz hinter der Kamera zu verlassen, lädt der Regisseur die Zuschauer ein, bescheiden und offen für die Begegnung einen ebenso anspruchsvollen wie bereichernden Platz einzunehmen. Nebst seiner Suche, den Einsatz seiner Eltern zu verstehen, hält er in seiner feinfühligen Art vor allem die Momente des Austauschs fest.(… weiter lesen)
Manchmal gleitet die Kamera zwischen die Gesprächspartner und stellt den Zuschauer mitten in diesen intensiven und überraschenden, oft verunsichernden Austausch hinein. Immer wieder geht es darum, der Ausgrenzung das Zusammensein und das Mitgehen entgegenzusetzen. Diese Haltung prägt den Film, er schlägt einen Weg der Empathie vor und lädt ein, über das, was uns als Menschen verbindet, nachzudenken.
Jean-Baptiste De Weck, Gründungsmitglied des Unesco-Clubs Freiburg
Es ist ein harter Film, der die Wahrheit zeigt und die grosse Ungleichheit und Ungerechtigkeit, denen unsere Brüder und Schwestern in Armut ausgesetzt sind. Beim Hinausgehen fühlte ich mich von diesem schweren Schicksal niedergedrückt. Es ist notwendig, jede Bürgerin und jeden Bürger mit politischer und sozialer Macht dafür zu gewinnen, sich für eine Gesellschaft einzusetzen, in der jeder Mensch seinen Platz finden und am Leben der Gemeinschaft teilnehmen kann.
Dominique de Buman, Präsident des Nationalrats
Im Wohlstand dieser Welt suchen wir uns einige Vorteile zu ergattern. Wenn man ein Wettspiel beginnt, vergisst man den andern schnell oder erdrückt ihn. Hier hat Père Joseph eine Pionierrolle gespielt. Durch konkretes Handeln und eine den ganzen Menschen umfassende Liebe verstand er es, den Menschen wieder Hoffnung zu geben, was einem materialistischen System nie gelingen wird. (… weiter lesen)
Aber ich bewahre den Optimismus und das Vertrauen auf das, was die Menschen mit all ihren Initiativen und ihrem Tun bewirken können, weil sie nicht aufhören zu glauben, dass die Bekämpfung des Elends ein gerechter Kampf ist, der früher oder später von Erfolg gekrönt sein wird. Hier liegt das Verdienst dieses Films im Dienst einer ausserordentlichen Sache.
Jean-Marc Schafer, der im Film mitmacht, sagt:
„Mit diesem Film habe ich beschlossen, mein Leben mit der Vierten Welt zu teilen. Es ist eine Art, Spuren zu hinterlassen, damit sich andere in meinem Leben erkennen und entdecken können, dass sie nicht allein und verlassen sind am Strassenrand. Dieser Film kann zu einem Weggefährten werden.“
Ein Gespräch mit dem Regisseur von “was ist aus uns geworden”
Simeon Brand hat mit was ist aus uns geworden seinen ersten langen Dokumentarfilm gedreht. Er folgt darin den Spuren seiner Eltern, die sich seit mehreren Jahrzehnten in der Bewegung ATD Vierte Welt einsetzen. Zahlreiche Weggefährten von Anne-Claire und Eugen Brand tauchen in diesem Film auf. Simeon beantwortet hier einige Fragen von Raphaël Engel, RTS-Journalist.
Wie sind Sie auf die Idee dieses Films gekommen?
Nach fast 40 Jahren Einsatz verspürten meine Eltern den Wunsch, Menschen und Orte, die ihr Leben geprägt haben, aufzusuchen mit der Frage: Was ist aus uns geworden? Menschen, die sich wie sie seit langem in der Bewegung einsetzen und von denen die meisten von grosser Armut gezeichnet sind. Mir gab es die Gelegenheit zu suchen und zu spüren, was sie im Kern mit andern in dieser Bewegung verbindet.
(… weiter lesen)
Und was haben Sie über dieses Engagement erfahren, das Sie vorher nicht verstanden hatten?
Beim Drehen dieses Films haben Menschen in mein Leben Einlass gefunden. Ich denke an Jean-Marc Schafer. Die Begegnung mit ihm hat mich mitten in sein Leben und Ringen geführt, er, der sein Leben lang eine Sprache genährt hat, um den Anspruch auf seine Geschichte und sein in der Verlassenheit erworbenes Wissen zu fordern. Das hat mir gezeigt, dass die Bewegung ATD Vierte Welt überall ein Ort ist, wo diese Geschichten in der ersten Person existieren, sich wiederfinden und zu einer Kraft der Verwandlung im Leben der Menschen und Gesellschaften werden können.
Was hat die Frage Was ist aus uns geworden bewirkt?
Zuerst fühlte ich mich fremd in dieser Frage. Dann sind wir auf Reisen gegangen: nach Frankreich, in den Libanon, nach Haiti, Peru, Bolivien, New York, China und Taiwan. Immer wieder andere Realitäten. Die Menschen, die wir besuchten, haben sich die Frage Was ist aus uns geworden nicht nur für sich, sondern auch für die Gesellschaft, in der sie leben, gestellt. In diesem Sinn ist der Film nicht ein Bericht über die Bewegung ATD Vierte Welt oder über die Armut.
Sie haben eine Ausbildung in den Ateliers Varan gemacht. Was hat Ihnen das gebracht?
Die Ateliers Varan haben mich einem Dokumentarfilm näher gebracht, der nicht objektivieren, analysieren oder erklären, sondern dem inneren Ausdruck Platz geben will. In diesem Film ist mein Blick nicht objektiv. Ich filme meine Eltern, ich beobachte sie, folge ihnen, betrachte jene, denen sie zuhören. Ich beobachte diese Momente des Lebens mit meinen eigenen Fragen. Ich greife wenig ein. Ich halte mich eher zurück. Gilles Volta, der Cutter des Films, hat mir gesagt: Ich mache die Dokumentarfilme so wie Spielfilme. Er hat mich sofort aufgefordert, eine Geschichte zu erzählen. Ich möchte der Bewegung ATD Vierte Welt danken, dass sie es uns ermög-licht hat, unser Vorgehen bis zum Schluss durchzuziehen. Mir wurde eine grosse künstlerische Freiheit zugestanden. Ich danke auch meinen Eltern für das Vertrauen, das sie mir schenkten.
Und jetzt?
Wir möchten den Film an möglichst vielen Orten zeigen, an Filmfestivals und auch an Orten, wo Leute eine Vorstellung organisieren wollen. Gleichzeitig stelle ich nun mit dem weiteren Material, das wir nicht in den Film aufgenommen haben, Kurzfilme von Orten und Personen her. Diese Videos, zusammen mit dem Film was ist aus uns geworden, alle mit französischen und deutschen Untertiteln, werden als DVD- Koffer herauskommen. Es ist uns wichtig, dieses Projekt nun so zu Ende zu führen.
VORPREMIERE des Dokumentarfilms
« was ist aus uns geworden »
Der Film von Simeon Brand, der am 11. Oktober als Vorpremière im Kino Rex in Freiburg zu sehen sein wird, ist anhand von Begegnungen in Frankreich und in der Schweiz gedreht worden. Der Regisseur spricht von seiner ursprünglichen Absicht, mit der Kamera seinen Eltern, Anne-Claire und Eugen Brand-Chatton, zu folgen, die sich beide seit den 1970er Jahren im Volontariat der Bewegung ATD Vierte Welt einsetzen.
„Am Anfang des Films stand für mich der drängende Wunsch, besser zu verstehen, was meine Eltern dazu geführt hat, sich mit Personen einzulassen, die früher oder heute noch bittere Armut erfahren. Ich wollte die Art ihrer Beziehungen, die von Dauer sind, besser verstehen. Auch besser verstehen, was sie mir überliefert haben und wie ich darin meinen Platz finden musste. So begleitete ich sie mit der Kamera in der Hand von Caen und Créteil in Frankreich bis in die Schweiz, von einem Treffen zum andern. Reden, Schweigen und Streitgespräche fanden statt in enger persönlicher Verbundenheit inmitten aktueller Herausforderungen wie der gleichen Würde aller Menschen, der Rechtslage, dem Zusammenleben, der Freiheit.“
Catalina Villar, Filmschaffende und Ausbildnerin in den Ateliers Varan in Paris, sagt:
„Dieser Film zeigt eine Menschlichkeit, die sich jedes Mal stärker aufdrängt, in ihrer Härte aber auch iihrer grossen Tiefe. Die Personen, die in andern Filmen nur das Elend erzählen, verändern hier unsere Sicht.“
Donnerstag, 11. Oktober 2018 um 18.30 Uhr im Kino Rex in Freiburg
Anschliessend Gespräch mit am Film Beteiligten und dem Publikum, Leitung Raphaël Engel, Journalist RTS.
Filmdauer: 98 Min. Frankreich / Schweiz : mit Untertiteln
freier Eintritt, Reservation notwendig 026 413 11 66 – film(at)atdvwqm(dot)ch
Bereitstellung von Videos für die beteiligten Länder
2016 und 2017 wurden Aufnahmen gemacht an verschiedenen Orten auf der Welt, wo Teams von ATD Vierte Welt seit vielen Jahren leben und Aktivitäten durchführen : Schweiz, Frankreich, Libanon, Haiti, Zentralafrika, USA, Bolivien, Peru …. Aufnahmen von rund 300 Stunden wurden gemacht in verschiedenen Sprachen : Chinesisch (Mandarin), Sango, Kreolisch (HaÏti), Englisch, Spanisch, Schweizerdeutsch, Französisch…
Im heute präsentierten Film von 98 Min. mussten wir aber die Auswahl der Sequenzen stark einschränken. Deshalb werden parallel zur Arbeit an diesem Film Videos in den einzelnen Sprachen montiert, in Zusammenarbeit mit den im Land engagierten Teams.
Die Rohaufnahmen werden im internationalen Joseph Wresinski Zentrum archiviert werden, damit sie als Material zur Verfügung stehen für lokale Video-Projekte. (Internationales Zentrum für Geschichte und Forschung auf dem Gebiet der extremen Armut .)
Ein Dokumentarfilm über Grenzen hinweg
Die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm «Was ist aus uns geworden?» gehen voran. Der Film will ein breites Publikum zur Begegnung mit unterschiedlichsten Menschen einladen, die mit der Bewegung ATD Vierte Welt und ihrer 60-jährigen Geschichte verbunden sind. Darstellerinnen und Darsteller in diesem Film sind Menschen aus der Schweiz, aus Frankreich, dem Libanon, Zentralafrika, Haiti, Taiwan, den USA und Peru. Von einer Begegnung zur andern, dank der gewachsenen Nähe, sagen sie worum es ATD geht.
Jean-Marc Schafer, ein Schweizer Darsteller, berichtet davon>>>
Ich hoffe sehr, dass die an diesem Vorhaben Beteiligten, ob in der Schweiz oder in Taiwan, aufzeigen werden, dass es bei der Bewegung ATD um einen Zusammenschluss geht. Wer Ausgrenzung erlebt, wird nicht vergessen und allein gelassen. Den Leuten, die verstehen wollen, muss man sagen, dass die Vierte Welt eine Bewegung der Hoffnung und des Miteinanders ist.
Bei dieser Filmarbeit ist es ganz wichtig zu verstehen, dass die Bewegung ATD ihre eigene Sprache entwickelt. Das ist keine Alltagssprache, die wir von Kind auf gelernt haben. Es ist eine andere Sprache, eine neue Sprache, mit der wir die richtigen Worte und Bilder finden können, solche, die mit unserem Leben übereinstimmen. Man muss aufrichtig bleiben, um die richtigen Worte für unser Leben zu finden, um nicht zu mogeln und dem Zuschauer zu ermöglichen, uns zu verstehen.
Mit diesem Film habe ich mich entschlossen, mein Leben mit der Vierten Welt zu teilen. Ich bin 62 Jahre alt, und es ist meine letzte Chance, mitzuteilen, was ich kenne, erlebe und fühle. Ich hoffe einfach, dass ich verstanden werde, aber ich kann niemanden dazu zwingen. Es ist schwierig, die Erfahrung von 62 Jahren in Worte zu fassen.
Mit diesem Film kann ich Spuren hinterlassen und andern ermöglichen, sich in meinem Leben wiederzuerkennen. Hoffentlich kann eine solche Person sehen, dass sie nicht allein ist in ihrer Situation. dass es einen Menschen gibt, der sie begleitet. Sie wird sich selber in diesem Film finden und sich nicht mehr verlassen fühlen am Strassenrand. Dieser Film kann zu einem Weggefährten werden.
Um Frieden zu finden und den Hass zu verbannen.
Im Moment sage ich, was ich denke, ich teile meine Sorgen mit, ich rede von mir und wie ich mit meinem Gewissen kämpfe, um Frieden zu finden und den Hass zu verbannen.
Wie habe ich es geschafft, trotz all der erlebten Gewalt keinen Hass mit mir herumzutragen? Ich habe mir gesagt: Jean.Marc, was musst du tun, um so wenig wie möglich zu leiden in deinem Leben? Und ich habe das Wundermittel gefunden: Lerne lieben! Und das habe ich schon als Kind getan, an all den Orten, wo ich fremdplatziert war, allein, ohne meine Geschwister, die ich erst viel später wieder gefunden habe. An jedem Ort musste ich jedes Mal neu lernen zu lieben.
Dass man weiterleben und eine Zukunft haben kann, das habe ich in diesem Film gefunden, eine Richtung, die den Weg nicht verfehlt. Und so mache ich weiter.
Jean-Marc Schafe
Peru und Bolivien
Peru und Bolivien gehörten zu unserer letzten Etappe der Dreharbeiten. Vladi Pino, ATD-Mitarbeiter aus Peru, hat uns durch diese zwei Wochen der Begegnungen und Dreharbeiten geführt.
In der bäuerlichen Gemeinde von Cuyo Grande
In der bäuerlichen Gemeinde von Cuyo Grande bei Cusco folgten wir mit der Kamera Edith Saire, einer ATD-Mitarbeiterin, wie sie Familien besuchte und nach und nach die Kinder auf dem Weg zur «Feldbibliothek» versammelte. Was Edith zuerst beschäftigt, das sind die Kinder und ihre Familien, nicht die Aktivität an und für sich. So hat sie ein Kind aufgesucht, das wegen seiner Arbeit nicht kommen konnte. Sie hat seinen Namen in ein Heft eingetragen als Zeichen, dass auch es zur Feldbibliothek gehörte.
Sich auf diese Weise mit allen in der Gemeinde zu verbinden und alle mit den Ärmsten zusammenzuführen, das erfordert viel Nähe und das Wohnen im Dorf, so wie es Edith, Jonathan und ihre Kinder tun.
Diese Begegnungen lassen uns verstehen, was die Menschenrechte für jene bedeuten, die der Gewalt umfassender Armut ausgesetzt sind. Wie für jene Mutter, deren Kinder nicht in die Schule gehen können, weil sie auf dem Zivilstandsamt nicht eingetragen sind. Bei den Dreharbeiten
Abhänge rund um die Stadt Cusco, auf denen sich die ärmsten Familien notdürftig einrichten zeigte sie uns voller Stolz zwei nationale Identitätsausweise (DNI), um die sie sich für ihre beiden jüngsten Kinder bemüht hatte. Aber ihr Gesicht verdüsterte sich, als sie sagte, sie verstehe nicht, warum der Schulleiter ihre Kinder trotzdem nicht akzeptiere und jetzt auch den DNI des Vaters verlange.
La Paz
In La Paz, der Hauptstadt des Landes, zeigten uns unsere Freunde und Verbündeten voller Freude und Stolz, was sich in der Stadt in letzter Zeit verbessert hat. Hoch über der Stadt konnten wir aus der Gondelbahn, die heute die verschiedenen Quartiere untereinander und mit La Paz und El Alto verbindet, filmen. La Paz liegt auf 3’600m ü.M. Auf 4000m Höhe hat sich die Stadt El Alto enorm entwickelt und zählt heute beinahe so viele Einwohner wie die Hauptstadt.
Lourdes Martinez, eine pensionierte Lehrerin, zeigte uns auf einer dieser Fahrten mit der Gondelbahn die Orte, an denen sie unterrichtet hatte. Sie erzählte, wie sehr sie das Leben und Denken von Père Joseph Wresinski in ihrer Art, das Kind samt seiner Familie ins Zentrum der Bildungsarbeit zu stellen, geleitet habe. Und auch, dass heute in ihrem Land vermehrt über Armut und Armutsbekämpfung gesprochen werde, aber wie schwierig es trotzdem bleibe, politische und gesellschaftliche Kräfte dafür zu gewinnen, sich dauerhaft an die Seite der Armen zu stellen.
Cusco
Vladi sagt:“In Cusco hat uns Familie Delgado mit dem Wissen jener, die schlimme Armut kennen, auf dem Abhang des Cerro¹empfangen. Armut über drei Generationen hinweg. Heute begegne ich den Kindern jener, die ich gekannt habe, als ich jung war. Wie dem 11-jährigen Carlos, der weiss, was die Arbeit seiner Mutter im täglichen Überlebenskampf wert ist. Er kann heute seine Gedanken ausdrücken und auch seinen Stolz.“
Vladi ist nach mehreren Einsatzjahren in Frankreich und den USA in sein Land zurückgekehrt. Er wollte jene wieder aufsuchen, die er vor zwanzig Jahren gekannt hatte und die ihn darin bestärkt hatten, sich mit den Ärmsten im eigenen Land und anderswo einzusetzen. So machten wir uns auch auf zu Franklin, der als Kind – nach seiner Arbeit als Wasserträger auf dem Friedhof – die Tapori-Bewegung in seinem Viertel in Cusco willkommen geheissen und verankert hat. Heute, mit 30 Jahren, denkt er oft darüber nach, wieviel Vertrauen es gebraucht hat, um seine Persönlichkeit aufbauen und sein Wissen weitergeben zu können. Dieses Vertrauen bewegt ihn immer noch und leitet seine Wünsche für seine eigenen Kinder und für sein neues Wohnviertel in Lima.
Hinter allen Filmaufnahmen, die wir in Peru machen konnten, steht ein zäher Kampf um ein menschenwürdiges Leben, und auch viel Einsamkeit! „Wie können wir dem Rechnung tragen?“ sagt Charo Carrasco, Koordinatorin der Bewegung ATD Vierte Welt in diesem Land. “Wir müssen Verbindungen mit Gleichgesinnten schaffen. Andere als nur die engsten Mitarbeitenden müssen unsere Bemühungen mittragen, sie glaubwürdig machen und ihnen in der Gesellschaft Anerkennung verschaffen.“
Aus diesem Grund war es wichtig, auch weitere Personen, die mit ATD Vierte Welt unterwegs sind, im Film zu haben. So auch Silvio Campana, den ehemaligen Verteidiger des Volkes in Peru. Er sagt im Film, wie arme Menschen seinem Anliegen, die Grundrechte für alle Wirklichkeit werden zu lassen, neue Tiefe und Perspektive gegeben haben.
Bolivien
In Bolivien konnten wir zahlreiche Begegnungen aufnehmen.
El Alto
In El Alto folgten wir Emma Poma, einem Basismitglied des nationalen Leitungsteams von ATD Vierte Welt, auf dem Weg zu armutsbetroffenen Jugendlichen, Müttern und Vätern, die sich am Einsatz von ATD in ihrem Viertel und ihrer Stadt beteiligen.
So trafen wir uns mit Dona Luisa auf einer Bank bei der Schule ihrer Kinder. Sie sprach von der Bedeutung, welche die Volksuniversität Vierte Welt für sie hatte. «Dort habe ich reden gelernt. Man hat mir zugehört, und so habe auch ich gelernt, den andern zuzuhören. Es hat mir geholfen, aus dem Schweigen auszubrechen und ohne Angst zu reden. Ich bin froh, dass ich mitgemacht habe, das hat mich vorangebracht. Nicht wirtschaftlich. Vorher fühlte ich mich arm an Geld, aber mir ist bewusst geworden, dass es nicht so sehr das Finanzielle ist, das dir hilft, aus der Einsamkeit auszubrechen. Es hat mir geholfen zu reden, in der eigenen Familie mit meinen Kindern und mit meinem Mann, und mich für unsere Rechte zu wehren.»
Emma sagte zu den Projekten von ATD Vierte Welt: «Diese Bildungstreffen können etwas verändern. Wenn es keinen Platz gibt für das Nachdenken, wenn das, was du kannst und weisst nirgends anerkannt wird, dann kann sich nichts ändern. Wir sind lange mit soviel Herablassung behandelt worden, dass es uns schliesslich normal vorkam. Mit ATD konnten wir sehen, dass das nicht normal war, dass wir es anders halten und einander als Menschen mit Rechten behandeln können.»
Die Familien in Bolivien wiesen uns darauf hin, dass dieser Film die Art der Beziehungen, welche die Menschen in der Bewegung ATD Vierte Welt pflegen, aufzeigen kann, Beziehungen von der Art «verse de igual a igual», von gleich zu gleich, auf gleicher Augenhöhe.
Coroico
In Coroico filmten wir dort, wo ATD Vierte Welt vor zwanzig Jahren beim öffentlichen Waschplatz einen Begegnungsort gebaut hat. Vor mehreren Jahren wurde er von der Gemeinde übernommen. Wir trafen nun den Abwart des Waschplatzes. Er berichtete uns, wie der Geist dieses Treffpunkts immer noch lebendig sei und wie er selber dafür sorge, dass der Ort schön und allen zugänglich bleibe. Er pflege die Bäume und sorge vor allem dafür, dass hier alle willkommen seien, auch jene, die ihren Beitrag nicht bezahlen könnten.
Spurensuche mit dem Filmteam in New York
Im vergangenen Mai war das Filmteam “Was ist aus uns geworden?» in New York auf der Suche nach Frauen und Männern, die dort den Weg der Bewegung ATD Vierte Welt mitgebaut haben. Dieser kurvenreiche Weg hat von vernachlässigten und gemiedenen Vierteln der Stadt zu den Stufen der Vereinten Nationen geführt. Mit der Stimme jener ausgegrenzten Familien hat ATD Vierte Welt bei der UNO den konsultativen Status 1 erhalten und somit das Recht, am grossen Auftrag mitzuwirken, «die Welt von Gewalt und Elend zu befreien.“
In einem Viertel von Manhattan – in dem die Bewegung ATD Vierte Welt in den Sechzigerjahren in den USA Fuss gefasst hat – hält ein Mann auf einem Moped brüsk vor uns an. Er spricht in die Kamera, die mein Sohn führt:
– Was macht ihr hier?
– Ich filme meinen Vater, der mir das Viertel zeigt.
– Der weiss ja nichts von diesem Viertel!
Ich erkläre: – Ich zeige meiner Frau und meinem Sohn, wo Fanchette und Vincent gewohnt haben.
– Was, du kennst die beiden?
– Ich war mit ihnen hier als Volontär, vor 40 Jahren…
– Dann kennst du ja auch Papo, Alvinia und all die andern?! Ich bin Res. (weiter lesen)
Er klopft Simeon auf die Schulter, sodass seine Kamera über die Wohnblöcke schwenkt und den Himmel einfängt.
Ich habe allerhand zu erzählen….wie die Familien von hier vertrieben wurden und in anderen Stadtteilen, in Brooklyn, der Bronx und New Jersey unterzukommen suchten. In mir ist eine Wut zurückgeblieben, ein Schmerz, eine bleibende Narbe.
Das Haus in der 4.Strasse, wo der Begegnungsraum von ATD Vierte Welt war, steht nicht mehr. Ein leerer Platz ist da. Dort treffen wir auf Albert. Wie Res spricht auch er uns an:
– Ihr seid von der Vierte-Welt-Bewegung? Ich bin im Viertel hier aufgewachsen. In der Schule hat man uns einmal einen Dokumentarfilm gezeigt, in dem man Leute in Afrika gesehen hat, die sehr arm waren und in Zelten lebten. Ich bin nachher mit einem Kopf voller Fragen nach Hause gegangen. Ich dachte an die Freunde meines älteren Bruders, Jugendliche vom Haus nebenan. Die lebten auch im Zelt, um sich vor dem eindringenden Regen zu schützen. Die Häuser waren halb abgebrannt, denn mit den Bränden hatte man versucht, die Leute aus dem Stadtzentrum zu vertreiben.
Als Kind hat man ein gutes Gespür für Leute, die keine bösen Absichten haben und das Viertel, unsere Eltern und uns Kinder respektieren. Fanchette und Vincent waren solche Leute. Sie kamen meine Mutter besuchen und ich ging zur Strassenbibliothek, zu Tapori.
Albert dreht sich zur Kamera, um zu zeigen, wie wichtig es ihm ist, dass von dieser Geschichte gesprochen wird und zwar von jungen Leuten. Mit den Leuten dieser Bewegung habe ich verstanden, woher ich kam und dass ich mich nicht zu schämen brauchte. Ich bin so aufgewachsen und das hat mein Leben geprägt. Ich bin jetzt 43 Jahre alt. So, wie man an mich geglaubt hat als Kind und als Teenager voller Fragen und Auflehnung, so ist es heute an mir, das Gelernte den Jugendlichen weiterzugeben.
Albert zeigt uns den Garten, den er mit den Quartierbewohnern angelegt hat, dort, wo einst die «Strassenuniversität» stattfand, wie er sagt. Diese Obstbäume hier haben wir gepflanzt, damit wir die Früchte mit allen teilen können. Wir machen Diskussionsabende mit Themen, die die jungen Leute beschäftigen. Seht ihr jene Balken? Im Gebäude gegenüber beherbergt die Stadt jetzt obdachlose Personen. Dort habe ich Louisa Smith getroffen. Sie ist es, die die ersten Balken in unserem Garten geschnitzt hat. Die Kinder haben ihr kleine Steine gebracht, die sie in die geschnitzen Gesichter eingefügt hat. Ihr Werk ist nicht fertig, sie ist gestorben, viel zu jung.(…) Schaut, ich habe auch alle Fahnen der Welt hinzugefügt! Mit Tapori habe ich gelernt, dass Freundschaft Grenzen überwinden kann!
Eugen Brand
Mit Nelly in der Unterstadt von Freiburg (CH)
In der Schweiz führt uns Nelly Schenker in das Quartier Au in der Unterstadt von Freiburg, wo sie zur Welt gekommen ist. Sie erinnert sich: «Wir wurden geduldet, aber nur im Keller. Meine Mutter und ich schliefen im selben Bett. Im Raum stand auch das Bett eines Onkels. Auch er hatte keinen andern Schlafplatz. Seine Skier und sein Mofa standen da, für uns gab es eine Kommode für die Kleider und so war der Raum voll. Der Ort war wie ein Ablageplatz, ein Abstellgleis, das zu einem Depot führt.»
Durch das einzige kleine, vergitterte Kellerfenster konnte Nelly als Kind nur die Füsse der Leute sehen, die auf der Strasse vorbeigingen.
«Bis heute sehe ich überall das Licht, das mitten im Dunkel ausbrechen möchte, ein Licht in ganz vielen Farben. Weil man mir ein Leben lang die Luft abgeschnitten und mich zusammengedrückt hat, so fest man nur konnte, versuche ich umso mehr, «freie Luft» zu atmen. Und ich möchte mein Licht in die Welt tragen. Wenigstens einen Strahl, der zu mehr Frieden und Gerechtigkeit führt.»
In Caen in Frankreich
Ende November und anfangs Dezember 2016 führt uns der Film nach Caen. Martine Le Corre ist hier in einem armen Viertel geboren. Ihre Begegnung mit Père Joseph und den Langzeitvolontären in jungen Jahren war ausschlaggebend: es ging um ihre Mitwirkung in der Bekämpfung des Elends. Martine engagierte sich, insbesondere im Team «Wissen verbinden» und im Forschungsprojekt «Elend ist Gewalt – das Schweigen brechen und Frieden suchen». In den letzten Jahren leitete sie die Volksuniversität Vierte Welt in Caen.
Als wir Martine besuchen, verbringt sie ihre letzten Wochen in Caen, bevor sie anfangs Januar 2017 ihre neue Aufgabe als Mitglied der Generaldelegation im internationalen Zentrum übernimmt. So filmen wir denn in einer Zeit intensiven Austauschs unter verschiedensten Mitgliedern. Sie befassen sich mit der Frage, die auch der Film stellt, nämlich: Was ist aus uns geworden? Wohin führt uns das? Einzeln und gemeinsam?
Sowohl bei Familien, die uns bei sich zuhause empfangen als auch an Begegnungs- und Arbeitstreffen leitet Martine die Leute immer wieder an, sich zu fragen: Wie bemühen wir uns, einander nahe zu sein, auf neue Familien zuzugehen, uns in unseren verschiedenen Aufgaben gegenseitig zu unterstützen und eine ambitionierte Bewegung zu bleiben, die der Gewalt und der Ungerechtigkeit des Elends entgegentritt? Und wie können wir, so gestärkt, eine Leitungsform des «Miteinander Denkens» weiterentwickeln?
In Frankreich in Créteil bei Paris wird die Sozialsiedlung Petits Prés /Sablières abgebrochen.
Ein ATD Team lebte dort in den 70er Jahren. Guendouz Bensidhoum ist dort aufgewachsen. Dank seinem Einsatz und dem anderer Jugendlicher konnten in der Siedlung weiterhin Aktionen von ATD Vierte Welt stattfinden, obwohl kein Team mehr dort wohnte.
Djamel Seboui ist einer dieser jungen Leute. In all diesen Jahren hat er in einem Album Fotos und Zeitungsartikel gesammelt. Er hat auch selber kurze Texte geschrieben, die vom Schmerz und vom Mut der Siedlungsbewohner zeugen, wenn sie harte Schläge einstecken mussten. Und er schildert Feste, an denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene fröhlich zusammen feierten.
Heute nun müssen die Familien ausziehen, hinter ihnen werden Fenster und Türen zugemauert, bevor endgültig abgerissen wird. Djamel wacht darüber, dass die Geschichte dieses Ortes nicht verloren geht und verpasst keine Gelegenheit, sie den Jüngeren nahe zu bringen.
Mit dem Licht seiner Bilder ehrt Guendouz das Andenken der jungen Menschen, mit denen er aufgewachsen ist und die der unbarmherzigen Gewalt der Armut zum Opfer gefallen sind. In einer Welt in der so viele Menschen und Orte spurlos verschwinden, leisten Djamel und Guendouz Widerstand gegen das Vergessen.
Das Video ist auf französisch. Wir suchen Leute, die aufdeutsch übersetzen können.
Der Dokumentarfilm, an dem Eugen und Anne-Claire Brand arbeiten, berichtet von Menschen aus verschiedenen Ländern. Das tägliche Leben, ihre wirtschaftlichen und sozialen Situationen sind sehr verschieden, aber was sie gemeinsam haben ist ihr tiefer und mutiger Einsatz. Der Film will den Faden aufzeigen, welcher die Menschen untereinander verbindet, auch wenn sie sich dessen nicht immer bewusst sind. Wo wir auch sein können auf der Welt, wir sind gemeinsam bei diesem Marathonlauf engagiert um Armut und Ausgrenzung zu überwinden.
„Geraubte Elternschaft“ in Taiwan wie in der Schweiz
Die Dreharbeiten zum Film “Was ist aus uns geworden?” kommen gut voran. Im Juli reiste das Filmteam nach Taiwan. Dort liess es sich von der ATD-Mitarbeiterin Shwu Shiow Yang-Lamontagne leiten. Sie hat Pionierarbeit geleistet, um die Bewegung in der chinesischen Kultur zu verankern. Der Aufenthalt begann mit einem Seminar zum Thema: “Das Recht auf Familienleben im Bezug auf die Realität der zwangsplatzierten Kinder”
Unser Schweizer Beitrag ging von den Filmbotschaften zweier ehemaliger Heimkinder aus, welche die chinesischen Freunde bei ihrem Besuch im Juni 2015 kennen gelernt hatten. In den Kurzvideos erklären sier, wie viel Zeit es gebraucht hat, bis sie endlich gehört und verstanden wurden, bis man sie nicht mehr als Lügner hinstellte, bis man ihnen nicht mehr die Schuld an der erlittenen Gewalt zuschob: “Der schönste Sieg in meinem Leben ist, dass ich mir Gehör verschafft habe !”
Ganzer Artikel erschienen im September 2016 in “Informationen Vierte Welt” (PDF)
«Das Ende eines Lebens
ist nicht das Ende seines Wirkens.
Wir verdanken dieses Seminar
der Entschlossenheit dieser Mutter ».
In Haïti…
Wer spricht heute noch vom Erdbeben in Haiti im Jahr 2010?
Wer weiss, was aus den Bewohnern dieser Insel geworden ist?
Aus diesem Volk der Freiheit und der Würde, der Hoffnung auch,
das diese Werte stets neu zu erobern sucht inmitten von Ausbeutung und Unterdrückung, Chaos und unbeschreiblicher Not und Gewalt?
Nach dem Erdbeben machen die Mitglieder der Bewegung ATD Vierte Welt die Erfahrung, dass es eine Mauer gibt, die dem Beben standgehalten hat, nämlich jene der Ausgrenzung.
Für unsern Film treffen wir ein Team von ATD Mitarbeitenden, die mit notleidenden Familien, mit Freunden und Lehrkräften unterwegs sind. Grösser als die Müdigkeit und die unzulänglichen Mittel ist ihr Mut, alles zu tun, damit die Hoffnung der Eltern nicht enttäuscht wird:
«Der Verstand unserer Kinder darf nicht blockiert werden. Sie sind der erste Reichtum eines ganzen Landes.»
Mütter und Väter, die ihre Kinder in die Vorschule «graine d’espoir» (Samen der Hoffnung) bringen, sagen uns, wie sehr die Lehrpersonen hier an die Fähigkeiten ihrer Kinder glauben und, ebenso wichtig, dass die Kinder hier lernen würden, sich untereinander und auch die Erwachsenen zu respektieren.
«Unsere Schule ist klein, aber hier lernen unsere Kinder das, was unser ganzes Land braucht, damit unser geliebtes Haiti eine Zukunft hat und die Fähigkeiten von niemandem verkümmern müssen.»
Die internationale Gemeinschaft hat sich eine nachhaltige Entwicklung, die niemanden übergeht, zum Ziel gesetzt. Die Schule «graine d’espoir» in Port-au-Prince stellt sich dieser Herausforderung und diesem Lernen für Gross und Klein!
Jacques Petidor
«Ich bin dem Nicht-Lesen-und-Schreiben-Können entkommen!» Diese Aussage von Jacques Petidor, Mitwirkender am Film in Haiti, hat mich sehr berührt. Als Kind lebte er als Hilfskraft in einem Privathaushalt. Dort hatte er einen schlimmen Unfall. Er fiel von einem hohen Baum und hatte mehrere Knochenbrüche. Sein Arbeitgeber fand ihn und legte ihn auf ein Bett, rief aber keinen Arzt. Mit einem stark versehrten Körper hat Jacques überlebt.
«Niemand ist illegal auf dieser Welt», sagt uns Père Joseph Wresinski. Aber ein Kind ist seinem Leiden überlassen worden, weil es in den Augen der andern nur zum Dienen da war, wie ein Ding, das weggeworfen wird, wenn es ausgedient hat. Allen Erwartungen zum Trotz hat Jacques überlebt, hat gelernt und ist politisch und sozial aktiv geworden. Er ist ein Überlebender des Illettrismus und der fehlenden Bildung. In jenem Zimmer, allein und ohne Beistand, hätte er sterben können, aber er hat überlebt. Wieviele Menschen jedoch sind ohne Bildung gestorben?
In der Schweiz gemachte Aufnahmen
Ich würde nie von mir aus in einen Dokumentarfilm gehen. Aber was man hier sieht, das ist stark, da bleibt man dabei ! Und dann könnten die Leute voller Hass sein. Das ist aber ganz anders, sie sprechen vom Frieden. Das spricht mich an und gibt mir Hoffnung.
(Am Samstag 12. März 2016 haben wir dieses Projekt und einige Filmausschnitte bei einem Treffen der Jugendgruppe Djynamo in Treyvaux vorgestellt.)
Im April waren wir 10 Tage im Libanon.
Nach der Projektion der Videos mit Nelly (Schweiz), Jean-Marc (Schweiz), Guendouz (Frankreich) und Parfait (Zentralafrika) – vor einem Publikum mit Menschen aus Ägypten, Syrien, Irak, Kurdistan, Sri Lanka und natürlich auch aus dem Libanon – kam es zu einem eindrücklichen Austausch über die Lebensgeschichten, den Mut ihrer Eltern, das erlebte Leiden, aber auch die Entschlossenheit das Schicksal in die Hand zu nehmen. Wir haben ein ziemlich langes Gespräch mit Georges aufgenommen.
Er gab uns zu verstehen, dass es das erste Mal war, dass er vor seinen Kindern, schon Jugendliche, über gewisse Schlüsselelemente aus seiner Kindheit sprach, als seine Familie hier in seinem Land, im Libanon grosse Armut erlebte. Solche Momente beeinflussen das Leben und die Wahl eines Engagements, welches auch Kritik ausgesetzt ist, wie jene seines Chefs der ihm sagte : « Du verlangst eine Lohnerhöhung, aber was nützt das, wenn du dieses Geld mit den Strassenkindern verschwendest. » Diese Worte sagte er in der Nacht bei den Aufnahmen vor dem Supermarkt wo er Wache hält und wo er nie isst, ohne mit den Kindern die dort sind zu teilen. « Ich hatte eine Operation und alle Kinder sind ins Spital gekommen, um mich zu suchen und mir zu essen zu bringen. Das Personal war eher beunruhigt als all diese Kinder in mein Zimmer kamen. ! »
Georges hatte als Kind selber auf der Strasse gelebt, auch mit seinem ersten Kind. « Und es war ein Zigeunerkind, das ein Stück Schokolade mit meinem Kind geteilt hat. »
Chronik der Begegnungen in Bangui
„Unter dem Mangobaum“ Bangui – 7.Januar 2016
Es ist 8 Uhr morgens, die Sonne brennt auf den Markt, an dessen Ende Guillaume auf uns wartet. Er wird uns zum Mangobaum führen, wo er mit Charles und Herbert zusammen gefilmt werden möchte. Er erzählt:
„Eine Piste führte uns damals unter diesen Mangobaum. Wir kamen vom Flughafen, wo die Jugendlichen für ein Trinkgeld Lasten abluden. Das Leben auf dem Schrottplatz hinter dem Flughafen war nicht leicht, sie wollten einen Ort haben, wo sie zur Ruhe kommen konnten. Das Blätterwerk dieses Mangobaumes war das Dach für unser Treffen, das Dach für den Start unseres Marsches mit der Bewegung ATD in Bangui. Aus weggeworfenem Material bastelten wir Radios, wir zeichneten die Vorlagen.“
Seit dreissig Jahren bewahrt Guillaume diese Pläne bei sich auf! Heute hat er sie mitgebracht und vor der Kamera ausgebreitet. Auch Charles gehörte zu diesen Jugendlichen. „Dank diesen Treffen konnten wir die Angst hinter uns lassen. Nachher haben wir den „Hof für tausend Berufe“ gebaut. Die Leute in der Umgebung meinten, wir hätten Arbeit gefunden, aber so war es nicht, wir bauten einen Ort für ATD Vierte Welt.“
Heute ist Herbert als junger Leiter in seiner Gemeinschaft aktiv. Wegen der bewaffneten Konflikte in seinem Land musste er mit seiner Familie in das Notlager beim Flughafen ziehen. „Ich befürchtete, dort keine Aktivitäten rund ums Lernen anleiten zu können, aber schon waren die Kinder da und sagten: Tonton, das schaffen wir! Mit den Müttern fingen wir an, einen Platz zu jäten. Wir sahen, dass es ging und dass es die Angst verscheuchte und unsere Intelligenz wach hielt. Wenn wir da sind, dann, weil uns die Ahnen nicht allein gelassen haben. Sobald ich eine Frage habe, rufe ich Guillaume an, egal um welche Zeit, manchmal nachts um ein Uhr, denn im Lager schläft man nicht. Ich rufe ihn an und bitte um Rat.“
Dieser Dokumentarfilm wird keine historische Darstellung sein, sondern eher ein Garten, in dem sich Menschen aus mehreren Ländern Europas, auch aus der Schweiz, und der Welt begegnen.
Gemeinsam wird ihnen die Frage sein:
Was ist aus uns geworden auf unserem Weg, das Schweigen zu überwinden und Frieden zu suchen, in unseren Siedlungen und Dörfern, in unserem Land und in der ganzen Menschheitsfamilie auf ihrer Suche nach Einheit?
Ein „Menschengarten“, in dem Kinder und Jugendliche Sinn, Mut und neue Freiheit finden auf ihrer Suche nach ihrem Platz und Wirken in der Welt.
Anfangs 2016 hat unser Filmteam bei Mitgliedern von ATD Vierte Welt in der Zentralafrikanischen Republik gedreht. Es berichtet: Wir haben Kurzfilme von Mitgliedern aus der Schweiz nach Bangui gebracht. Bilder, auf denen man Valentin begegnet: „Als ob ich ein Apfelbaum wäre, so hat man mich an einen neuen Ort verpflanzt. Es war schwierig, in der neuen Erde heimisch zu werden. Deshalb möchte ich meine Wurzeln entdecken, neuen Boden und neue Energie finden, um mich gegen die Armut zu wehren.“ Und auch Bilder von Nelly Schenker aus Basel, die von Père Joseph Wresinski spricht: „Er hat uns Wurzeln fassen lassen und das auf dem Boden des Wissens, das man miteinander teilt. Er hat uns als freie und intelligente Menschen wachsen lassen.“
Was ist aus uns geworden bei unserer Suche nach Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden ?
Menschen, die sich nicht begegnen haben Angst voreinander – das führt zu Gewalt. Unser Projekt soll direkte Begegnungen über geographische, soziale und kulturelle Grenzen hinweg ermöglichen.
Der Film wird sich von den Kindern und Jugendlichen leiten lassen, von ihrem Blick in die Zukunft und wie sie diese zu gestalten suchen. Damit sollen auch indirekte Begegnungen und Gedankenanstösse für ein friedliches Zusammenleben ermöglicht werden.
Verantwortlich für das Projekt sind Anne-Claire und Eugen Brand. Eugen Brand war von 1999 bis 2012 Generaldelegierter der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt. Diese Verantwortung hat ihn in über 50 Länder geführt. Dabei sind dauerhafte Beziehungen mit Menschen in grosser Armut sowie mit Partnern im öffentlichen Leben und der Gesellschaft gewachsen. Projektbeschreibung (PDF, 4 Seiten)
Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass der Graben zwischen Armen und Reichen sich vertieft. Mit unserer Arbeit wollen wir nicht Zahlen und Fakten in diesem Sinne hinzufügen, auch nicht eine Moralbotschaft. Wir wollen Menschen zu Worte kommen lassen, arme und nicht arme, die aus ihren ganz verschiedenen Lebenswegen gemeinsam ein Netz von gelebter Solidarität im Einsatz gegen Armut aufbauen. Ziel unserer Arbeit ist, diese unbekannten Brückenbauer vom Schatten ins Licht zu bringen und dies auf eine Art und Weise, wie sie das selber wollen und bestimmen. Gerade jungen Menschen, die sich oft gegenüber dem überwältigenden Weltgeschehen machtlos, manchmal sogar unnötig vorkommen, möchten wir damit eine Quelle aufzeigen, wo sie Kraft und Mut schöpfen können, mit Kreativität neue Wege des Zusammenlebens aufzubauen.