Mit Menschen in Armut unterwegs |
Wir unternehmen viel, damit Leute des Landes sich unserem Einsatz anschliessen können.
Malou Monachon ist seit vier Jahren in diesem Projekt in Bangkok.
«Pii, Pii, was machen wir heute? Kommen Pii Duang und Pii Oh auch?» Lachend und schreiend werden wir am Eingang des Slums von einer Schar Kinder begrüsst. Bald kommen sie von allen Seiten aus ihren Holz-und Blechhütten angerannt. Sie hüpfen und hängen sich an uns und streiten um das Privileg, die Bastmatten und die Taschen mit den Büchern und dem Bastelmaterial zu tragen. Auf einem freien Platz zwischen den Hütten breiten wir die Matten aus, und bald schon sitzen die Kinder im Kreis, um die Geschichte des Tages zu hören. Heute ist es die Raupe Nimmersatt. Nachher darf jedes Kind eine Raupe basteln. Ungeduldig tönt es: «Pii, hilf mir, ich kann das nicht allein! Pii, den Leim bitte, das Papier!» Langsam wird es ruhiger. Was für ein friedliches Bild, wenn schliesslich jedes Kind mit seinem Werk beschäftigt ist!
Pii bedeutet grosse Schwester oder grosser Bruder. In Thailand ist es üblich, «Grosse Schwester», «Kleiner Bruder», Onkel oder Tante vor den Vornamen zu setzen und nebst Verwandten auch nahestehende Bekannte so anzureden. Duang und Oh sind zwei Thailänderinnen, die uns am Wochenende bei der Arbeit mit den Kindern in einem der Slums von Bangkok helfen. Manchmal machen wir mit den Kindern und Eltern Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt, in einen Nationalpark oder ans Meer. Wir besuchen die Familien auch zu Hause und teilen Freud und Leid mit ihnen. Wir unterstützen sie besonders in ihren Bemühungen, die Kinder in die Schule zu schicken.
Im Elendsviertel, das wir nun seit Jahren kennen, leben heute etwa hundert Familien. Zwei grosse Brände haben in den letzten Jahren viele Familien gezwungen, anderswo Unterschlupf zu suchen. Die Bewohner verdienen ihren Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Altmaterial: Karton, Metall und Plastik. Manche Frauen kochen Erdnüsse, entstielen Pfefferschoten oder verfertigen Blumengirlanden, die sie nachher mit der Hilfe ihrer Kinder in der Stadt verkaufen.
Seit vier Jahren bin ich nun im ATD-Team in Bangkok. Mit zwei andern Volontärinnen, einer Amerikanerin und einer Britin, teilen wir uns in die Gesamtleitung unseres Bildungsprojekts.
Vor kurzem hat uns ein Unfall, der sich in einer Familie des Slums zugetragen hat, tief erschüttert: Der 12-jährige Tii Yai, den wir gut kannten, ist ertrunken. Im Team überlegten wir, wie wir seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern beistehen können. (Der Vater ist schon vor einigen Jahren gestorben.) Wir haben Freunde und Volontäre, welche die Familie schon vor uns gekannt haben, benachrichtigt. Wir wissen, wie kostbar und tröstlich ein Brief sein kann, der eine Familie spüren lässt, dass sie über die Grenzen des Slums hinaus mit andern Menschen verbunden ist.
Wir unternehmen viel, damit Leute des Landes sich unserem Einsatz anschliessen können. Für Familien, die nur die Welt der Armut kennen, bedeutet es einen unschätzbaren Gewinn an Selbstachtung, mit Landsleuten aus andern Kreisen tragende Beziehungen aufbauen zu können. Unsere thailändischen Freunde helfen uns gleichzeitig, ihre Bräuche und ihre Kultur besser zu verstehen und unsere Projekte
so zu entwickeln, dass sie den Kindern und Erwachsenen hier immer besser entsprechen.
Deshalb möchte ich nun Orruedee Sumanangkul vorstellen. Wie hier üblich, nennen wir sie kurz Oh. Sie ist 33 Jahre alt, hat einen Universitätsabschluss und arbeitet in einem Anwaltsbüro. Seit mehr als zwei Jahren hilft sie uns im Bildungsprojekt im Armenviertel. Sie ist sehr beliebt bei den Kindern, und auch die Eltern schätzen sie je länger je mehr. Sie hat ein grosses Interesse an Kinderbüchern entwickelt und aus ihrem eigenen Geld viele neue Bücher für unsere Bibliothek gekauft. So hat sie die auch in Thailand sehr beliebten Bände von Harry Potter angeschafft, damit auch die Kinder im Slum seine Abenteuer entdecken können. Die Kinder, die wir kennen, besitzen kaum andere Bücher als Schulbücher, und diese auch nur, wenn sie in die Schule gehen.
Oh schafft auch Verbindungen zu verschiedenen Organisationen, die den Armen Hilfeleistungen anbieten. Letzthin hat sie einer jungen Frau geholfen, sich für einen Kurs zum Nachholen verpasster Schuljahre anzumelden. Sie liess es sich nicht nehmen, die Frau persönlich zum Eintrittsexamen zu begleiten.
Hören wir nun, was Oh selber zu ihrem Engagement zu sagen hat:
«Mein Traum war schon immer, mit einer Organisation für die Armen zu arbeiten. Mit ATD kann ich diesen Traum verwirklichen. Anfangs dachte ich, dank meiner Ausbildung und meiner Kenntnisse würde ich die Kinder und Eltern etwas lehren und ihnen helfen können. Aber es war ganz anders. Bei jeder Begegnung mit den Bewohnern des Slums bin ich nämlich diejenige, die Neues lernt. Dank der Kinder und Eltern ebenso wie der Volontäre erweitere und vertiefe ich ständig meine Weltsicht, mein Verständnis der Menschen und vieler verborgener Zusammenhänge. Ich hoffe, dass ich den Menschen eines Tages ebenso viel zurückgeben kann, wie ich von ihnen erhalte. Es macht mir wirklich Freude, mich auf die Begegnung mit diesen Familien einzulassen. Deshalb mache ich auch weiter.»