Mit Menschen in Armut unterwegs 

Chantal Consolini Thiébaud ist seit eineinhalb Jahren Volontärin im Team von Genf. Bevor sie die Aufgabe im internationalen Tapori Sekretariat übernahm, hat sie verschiedene Strassenbibliotheken geleitet:

Als ich noch im Studium war, wollte ich mich konkret im Kampf gegen die Armut engagieren. Ich kannte ATD Vierte Welt. Darum begann ich mit einer Freundin zusammen in einer Wohnwagensiedlung von Fahrenden eine Strassenbibliothek zu organisieren. Die Kinder dort gingen nicht zur Schule und viele hatten ihre nächste Umgebung noch nie verlassen. Ausser einigen Franziskanerbrüdern besuchte niemand die Familien. Am meisten schockierte es mich, als ich sah, wie von Aussenstehenden gebrauchte Kleider und Esswaren, alles durcheinander, vor den Wohnwagen deponiert wurden. Niemand suchte die Begegnung mit den Bewohnern. Diese nahmen zwar die Sachen, aber ohne Freude. Sie schämten sich.

Als wir zum ersten Mal in die Siedlung kamen, wurden wir gleich von neugierigen Kindern empfangen. Sie wichen aber vor den Büchern zurück. Die Eltern waren misstrauisch. Erst nach und nach freundeten sich die Kinder mit uns und den Büchern an. Dann aber waren sie es, die uns zu ihren Eltern führten: Die Kinder stibitzten uns Bücher, damit wir diese bei ihnen zuhause wieder holen mussten! Langsam aber stetig wuchs das Vertrauen.

Annäherung von Eltern, Kindern und Lehrkräften

Mit der Zeit vertrauten uns die Eltern ihre Wünsche für ihre Kinder an: Sie sollten etwas lernen und später einen guten Beruf haben. Die Kinder selber drängten uns, ihnen das Lesen und Schreiben beizubringen. Dass sie die Schule besuchen konnten, wurde nun zu unserem gemeinsamen Ziel. Wir wussten, dass der grosse kulturelle Graben zwischen den Lehrkräften und den Eltern, die sozial geächtet werden, den Dialog erschweren würde. Um eine Brücke zwischen ihnen zu schlagen, luden wir die Lehrkräfte der Schule ein, an einer Strassenbibliothekswoche teilzunehmen. Die Schulleiterin kam sogar selber und lernte von den Müttern das Korbflechten! Dank gegenseitiger Anerkennung wurde das Gespräch möglich und zusammen konnten wir anfangen, die Einschulung der Kinder ins Auge zu fassen.

Billy, ein Kind aus Marseille

Später kam ich als Volontärin nach Marseille. Es gab da eine Siedlung mit riesigen Wohnblöcken, ein senkrechtes Elendsviertel mit 7000 Personen aus dem ganzen Mittelmeerraum. Da lernte ich Billy kennen, ein Kind, das die andern «Billy den Verrückten» nannten. Er umkreiste unsere Strassenbibliothek mit dem Velo. Er hielt nicht an, aber er war da. Schritt für Schritt näherte er sich den Büchern und blieb schliesslich da ­ immer auf seinem Velo. Er hatte Angst, es werde ihm gestohlen. Billy hat mich alle Ängste gelehrt, die ein Kind in einem Viertel wie diesem haben kann. Er wohnte im 11. Stock ohne Lift. Er hatte Angst, bei den Wohnungen vorbei zu gehen, die von Drogenkranken besetzt waren. Er hatte immer Angst, plötzlich von irgend jemandem geschlagen zu werden. Diese Angst und Unsicherheit hinderte ihn daran, auf das Buch in seinen Händen zu achten. Ich schlug ihm vor, sich zum Lesen an eine Mauer zu lehnen. So war er etwas entspannter. Eines Tages brachten wir das Buch «Rosarotes Bonbon» mit. Er erkannte sich im kleinen Buben der Geschichte. Das war für ihn ein richtiges Aha-Erlebnis.

Billy hat mich fühlen lassen, was für eine Last eine mittellose Familie zu erdrücken droht, wenn sie von andern schräg angeschaut wird. Als ich zum ersten Mal Billys Mutter traf, sagte auch sie, ihr Sohn sei «verrückt». Da wir unterdessen bemerkt hatten, dass etliche seiner Schwierigkeiten mit seiner Legasthenie zusammenhingen, versuchten wir, mit der Mutter darüber zu reden. Es war nicht einfach, aber ich spürte, dass wir mit Billy nur weiter kommen würden, wenn es uns gelänge, mit seinen Eltern im Gespräch zu sein und ihnen unsere Achtung zu bezeugen.

«Von euch werden wir ernst genommen.»

Für die Strassenbibliotheken hat mir Folgendes sehr geholfen: das bewährte Team, mit dem ich alles besprechen konnte; die Begegnungen mit den Eltern, die zwar oft schwierig, aber umso wichtiger waren; und das Aufschreiben des Erlebten nach der Strassenbibliothek. Beim Schreiben konnte ich mir das Geschehene noch einmal vor Augen führen und mich über alles Schöne freuen, zu dem die Kinder fähig gewesen waren. Die Eltern finden im täglichen Überlebenskampf nicht immer die Musse, ihre Kinder zu beobachten. Wir hatten Gelegenheit, ihnen die Fortschritte ihrer Kinder aufzuzeigen. Während der Strassenbibliothek haben mir Kinder und Eltern mehr als einmal gesagt: «Mit euch kann man reden, ihr hört uns zu und nehmt uns ernst.» Es ist unwahrscheinlich, wie ein Kind aufblüht, wenn es spürt, dass es ernst genommen wird! Heute habe ich bei meiner Aufgabe im Tapori Sekretariat eine neue Gelegenheit, Kinder verschiedenster Herkunft ernst zu nehmen, indem ich sie weltweit in ihrem Bemühen um ein freundschaftliches und friedvolles Zusammenleben unterstütze.