PÈRE JOSEPH WRESINSKI
(1917-1988)

Joseph Wresinski kam am 12. Februar 1917 als Sohn eines Polen und einer
Spanierin in Angers (Frankreich) zur Welt. Er verlebte seine Kindheit in grosser Armut. Nach
einer Konditorlehre kehrte er mit neunzehn Jahren auf die Schulbank zurück, um Priester
zu werden. Dabei wollte er seinen Wurzeln treu bleiben und vor allem den Ärmsten nahe sein.
Am 29. Juni 1946 wurde er in Soissons zum Priester geweiht. Während zehn Jahren war er
hauptsächlich in der Gemeindearbeit tätig, als Vikar in einem Industriegebiet und
später als Landpfarrer. 1956 schlug sein Bischof ihm vor, die Arbeit in einem
Obdachlosenlager in Noisy-le-Grand (östlich von Paris) aufzunehmen.

Am 14. Juli 1956 schloss er sich den 252 Familien, die in diesem Obdachlosenlager
lebten, an. Er erfuhr dort einen wahrhaftigen Schock. “An diesem Tag
bin ich ins Elend eingetreten”, schrieb er später. Er setzte seine ganze Energie ein,
damit diese Familien in ihrer Würde und als Volk anerkannt werden – als Volk mit eigenem
und einzigartigem Erfahrungshintergrund, nicht wegzudenken aus der Gesellschaft.
“Ich war besessen von der Idee, dass dieses Volk niemals aus seinem
Elend herauskommen würde, solange es nicht in seiner Gesamtheit, als
Volk, empfangen würde, wo die andern Menschen diskutieren und sich
mühen. Ich habe mir fest vorgenommen, dass ich, wenn ich hier bliebe,
dafür sorgen würde, dass diese Familien die Stufen des Vatikans,
des Elysées, der UNO emporsteigen können.”

Armut bekämpfen bedeutete für ihn, Hunger nach Wissen und Zukunft stillen –
anstelle der entwürdigenden Suppenverteilung. Den Familien in Noisy-le-Grand schlug er vor,
einen Kindergarten und eine Bibliothek zu gründen. Eine Kapelle, eine Werkstätte,
eine Wäscherei und ein Schönheitssalon wurden nach und nach eingerichtet.

Zusammen mit den Familien in Noisy-le-Grand gründete Père
Joseph Wresinski eine Vereinigung, die später zur Bewegung “Aide à
Toute Détresse” (ATD, frz. “Hilfe in grösster Not”) wurde.
Ihn trieb eine Gewissheit an: “Elend ist nicht unabänderlich,es ist
von Menschen geschaffen worden.” Mit der Zeit engagierten sich mehr und
mehr Frauen und Männer unterschiedlichster Herkunft gemeinsam mit
ihm dagegen. Einige entschieden sich, ihre Erfahrungen und ihr Leben mit
den Ärmsten zu teilen. So entstand das ständige Volontariat von
ATD Vierte Welt.

Die Bewegung wurde grösser und vielfältiger. 1967 entstanden der Kinderzweig der
Bewegung, Tapori,
und 1973 aus einer ersten grösseren Begegnung
von Jugendlichen aus benachteiligten Vierteln die
“Vierte Welt Jugend”.

1979 wurde Père Joseph Wresinski als “qualifizierte Persönlichkeit” zum
Mitglied des französischen Wirtschafts- und Sozialrats ernannt. 1985 ergriffen die
Ratsmitglieder die Initiative, einen Bericht über die grosse Armut auszuarbeiten, und
ernannten Joseph Wresinski als Berichterstatter. Zusammen mit den Familien
der Vierten Welt und den Volontären verfasste er einen wegweisenden Bericht “Grosse Armut
und wirtschaftliche und soziale Unsicherheit”, der eine
Strategie für einen umfassenden Kampf gegen die Armut vorschlägt. Die Vorschläge
des Wresinski-Berichts wurden am 11. Februar 1987 ohne Gegenstimme angenommen. Der
französische Wirtschafts- und Sozialrat verlieh somit der weltweiten Botschaft von
Père Joseph und den Anliegen der Ärmsten offizielle Anerkennung: Das Elend stellt
eine Verletzung der Menschenrechte dar. Es zu überwinden ist nicht möglich, ohne die
Ärmsten als Partner einzubeziehen.

Einige Monate später, am 17. Oktober 1987, kamen auf Joseph Wresinskis Einladung hin
mehr als 100’000 Menschen aus allen sozialen Schichten und aus aller Welt
auf dem Trocadéroplatz der Freiheit und der Menschenrechte in Paris zusammen,
um der Respektierung der Menschenrechte Nachdruck zu verleihen. Eine
Gedenktafel für alle Opfer
von Hunger, Unwissenheit und Gewalt
wurde eingeweiht, deren Inschrift sein Grundanliegen zusammenfasst: “Wo immer Menschen
dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit
vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen, ist heilige Pflicht.”

In den folgenden Jahren nahmen auf allen Kontinenten Personen und Gruppen den 17. Oktober wie
auch den 17. jedes Monats zum Anlass, ihren Einsatz gegen das Elend öffentlich
bekanntzumachen und zu erneuern. 1992 lancierten tausende Personen und Gruppierungen zusammen mit
Javier Perez de Cuellar einen Aufruf an die Vereinten Nationen, den 17. Oktober als
Welttag zur Überwindung der grossen Armut
anzuerkennen.
Am 22. Dezember 1992 wurde er durch die UNO anerkannt. 1996 erklärten die Vereinten Nationen
zum gleichnamigen Jahr, und 1997-2006 zur UNO-Dekade zur Überwindung der grossen Armut.

Am 14. Februar 1988 verstarb Joseph Wresinski und wurde unter der Kapelle im internationalen
Zentrum der Bewegung ATD Vierte Welt in Méry-sur-Oise (Val d’Oise, Frankreich) beigesetzt.
Sein Name bleibt mit der Befreiung der Ärmsten verbunden, deren
authentischer Vertreter er sein Leben lang war. Das “Joseph Wresinski”-Haus in
Baillet-en-France (Val d’Oise, Frankreich) sammelt sein Gesamtwerk und trägt zu
dessen Verbreitung bei.


© ATD Vierte Welt Schweiz, Treyvaux 20.4.99/mbs/webmaster